Musikalische Randnotiz 14.11.2022
Gefrühstückt habe ich mit den „Préludes“ von Messiaen. Filigrane, wunderbare Stücke in Debussy-Tradition mit hübschen Farben und Momenten. Harmonisch spielen sie sich im Bereich der Skalen ab (bei Messiaen heißen sie „Modi“). Aus diesen Skalen lassen sich viele musikalische Farben und Formen bilden, von Durakkorden bis zu clusterähnlichen Ballungen ist alles möglich. Reizvolle Farbwechsel ergeben sich auch durch Transpositionen. Messiaen war bekannter Maßen tief katholisch, ich muss bei seiner Musik oft an Kirchenfenster denken mit ihrer farblichen Verspieltheit und Statik.
Das „Statische“ darin gibt mir aber auch zu denken. Natürlich ist Messiaen ein einmaliger, wichtiger Komponist, der viele Türen aufgestoßen hat. Er ruht in sich in kontemplativer Betrachtung. Aber nach einer Viertelstunde „Préludes“ fehlt mir die Entwicklung, es bleibt bei aller pikanter Schönheit irgendwo immer in einem statischen Zustand.
Ein ähnliches Problem habe ich oft bei neuerer Musik bis hin zur ganz aktuellen. Angestrebt wird hier nach meinem Eindruck vor allem eine interessante, situative Klanglichkeit, wie auch immer die beschaffen ist- es geht sozusagen um „Sounds“. Was selten anzutreffen ist, ist aktuelle (Kunst-)Musik, die aus ihrer Machart und Struktur heraus wirkliches „Werden“ oder Prozesse erzählt. Eine ENTWICKLUNG. Stattdessen scheint es mehr um emotionale Plateaus, um gleichbleibende Zustände zu gehen, die sich aneinander reihen.
Die klassische Musiktradition hingehen lebt in ihren tiefsten Grundlagen von der Erzählung eines wie auch immer gearteten „Werdens“. Wenn man 100 Jahre alte Konzertführer zur Hand nimmt, mag man vielleicht schmunzeln über das Pathos und die Sprache, aber ein starker Fokus bei der Beschreibung von Musik liegt auf dem VERLAUF, der oft ganz anschaulich-programmatisch verdeutlicht wird. „Nun klopft das Schicksal an die Tür“ (Beethovens 5.) – „Kosmische Hybris“ (Mahlers 6.), mit Worten und Ideen aufgeladen wird die gewaltige, zwingenden Architektonik des musikalischen Erzählens. Natürlich kann man es auch anders hören, eine stringente musikalische Form- und Sinnarchitektur kann sich ganz unterschiedlich mit Bedeutung aufladen. Aber hier geht es nicht darum, dass ein Höhepunkt an den anderen reiht, sondern um einen stringenten dramaturgischen Aufbau der Musik, die somit ungeheuer viel erzählen kann, sich geradezu mit „Welt“ vollsaugt. Lange Übergänge und Zwischen-Phasen gehören dazu. Musik ist abstrakt, man kann sie „so oder so“ hören, aber eine Narration ergibt sich nur, wenn sie in der Musik (und hier bereits in ihrer Materialebene) angelegt ist. Natürlich liegen die Grundmuster des menschlichen Erzählens darunter, wie sie wohl schon im Lebenszyklus jedes einzelnen angelegt sind, und wie es sich in der Literatur, Mythen oder Märchen spiegelt.
Dem hastigen Hörer von heute dringt kaum noch ins Bewusstsein, dass man große Musik der Tradition ähnlich wie Romane, Kurgeschichten oder Gedichte erleben muss, wenn man sie verstehen will. Sie hat einen Anfang, eine Entwicklung, Höhepunkte, Zwischenphasen, Brüche, einen Abschluss. Aber das vermisse ich ungeheuer in weiten Teilen der aktuellen Musik. Hier gibt es mir heute zu viele „interessante Klänge“ ohne inneren Kontext und Zusammenhang, die irgendwo anfangen und irgendwo aufhören.
Natürlich reicht das Problem bis tief in die „Materialebene“. Aus dem Organisationskonzept der Töne, Rhythmen, sonstigen Bestandteile der Musik muss sich ein Gefälle ergeben, die den zwingenden musikalischen Strom erst möglich macht. Ein sinnhaftes Gefälle kann mit verschiedenen Mitteln erzeugt werden, aber es braucht grundlegend das Bewusstsein, dass Musik es Erzählendes ist, etwas offen-Prozesshaftes mit Entwicklungs-Absicht und nicht einfach nur ein auf sich selbst zurückgeworfener, plätschernder „Zustand“.
Vor kurzem habe ich von einer sich als modern und heutig verstehenden Theatergruppe gelesen, die allen Ernstes „Nicht-narratives Theater“ machen möchte. Ich staune darüber nicht wenig. Eine solche Dekonstruktion einer Dekonstruktion einer Dekonstruktion kann doch nur eine totale Kopfgeburt sein – für mich konzeptuelle Absurdität. Ich glaube nicht, dass diese Narrations- Kritiker überhaupt verstanden haben, was „Erzählen“ eigentlich ist. Aber darauf kommt es an, heute mehr denn je. Ganz besonders auch in der Musik.